Mittwoch, 31. Oktober 2012

Auch Adolf hatte Paradontose

Zum  Schwerbelastungskörper in Berlin-Tempelhof.

Armer Adolf. Der Sack hatte ja angeblich nur einen Hoden. Und auch sonst: Verdauungsprobleme, chronische Magenprobleme, Blähungen, schlechte Zähne, starker Mundgeruch, Parandontose, tablettenabhängig von 82 verschiedenen Medikamenten, chronisch heiser, Bluthochdruck, zuletzt Parkinson.
Auch sein Leib- und Hausarzt Theodor Morell konnte keine Abhilfe schaffen – dieser stank laut Zeugenaussagen selbst aus allen Poren.

Wen wundert es da noch, dass das stinkige Monster Adolf nur Schwachsinn im Kopf hatte?!
Wie zum Beispiel den Bau der „Welthauptstadt Germania“. Ein größenwahnsinniges, überdimensionales Berlin mit hässlichen Prachtbauten, Triumphbögen, dicken Säulen, breiten Straßen zum Salutieren und all dem anderen Bockmist. 
„Mittelpunkt des Großgermanischen Weltreichs“. Wie das klingt! Da will doch keener wohnen!
Das einzige, was heute davon noch übrig ist, ist dieses Schwerbelastungsdingsbums. Dieses stinkt laut meiner Aussage aus allen Beton-Poren nach unnötig. Schrecklich. Unfassbar. Grausam. Schwer belastend. Sinnbildlich für alles, was damals so abgegangen ist.
Ein Schwerbelastungssack. Was ein Mann sich so alles ausdenkt, um einen fehlenden Hoden zu kompensieren…

Fünf Sterne für unsere Nachfahren, wenn dieser Koloss von Tempelhof noch mindestens 1000 Jahre hier rum klotzt, als abschreckendes Mahnmal dafür, dass so ein grausame Scheiße nicht noch einmal gebaut wird.
Einen Stern für Adolf. Auf dem Walk of Shame!

Lykke Li geht nie ins Lykia

Durchschnittliche. Erste. Dates.
Mir gegenüber sitzt Durchschnitts-Bernd. Bernd ist Pressesprecher bei einem Verband und stammt ursprünglich aus Schwieberdingen in der Nähe von Stuttgart.
Ich versuche seinen Dialekt angestrengt zu ignorieren.

Die Bedienung ist blond, niedlich und nett.
„Was kann ich Euch bringen?“
Bernd bestellt Köstritzer Schwarzbier. Ich ein Red Bull.
„Schmeckt Dir das?“
„Nö. Aber ich bin müde. Und Club Mate haben Sie hier leider nicht.“
„Club Mate? Das trinken doch nur die ganz Coolen, oder?“
Aha.
„Hm. Ja. So ungefähr. Ich trinke es, weil ich Kaffee nicht wirklich mag. Und weil Cola zu süß ist. Und Koks ist mir dann doch wieder zu teuer.“
Er sieht mich irritiert an. Na, das kann ja ein spaßiger Abend werden. Bernd spricht offensichtlich kein zynisch. Dafür schwäbisch.

„Und, was machst Du so? Wenn Du nicht gerade mit der Presse sprichst?“ frage ich mäßig interessiert.
„Ich spiele Fußball. Und engagiere mich in der Jungen Union…“
Verdammte Kacke! Vor mir sitzt also CDU-Bernd. Können wir diese Verabredung an dieser Stelle beenden? Nein, können wir natürlich nicht.
Mein Red Bull ist schon wieder alle. Ich bestelle einen Tomatensaft und überschütte ihn mit zwei Tonnen Pfeffer.
„Du bist komisch“, sagt CDU-Bernd. „So anders…“
Aha.
Na, wenn ich mir Dein kariertes Hemd so ansehe, will ich das doch schwer hoffen.

CDU-Bernd erzählt von seiner Mama. Von Maultauschen und Spätzle. Von seinen beiden letzten Freundinnen. Die einzigen, die er ja hatte.
Wie die wohl hießen? Perlen-Paula? Perlen-Marie?
Er schwäbelt weiter. Sie waren beide blond. Sie waren beide Arzttöchter.
Hm. Aha.
Ich denke an meinen Vater, der beim Operieren immer drei Brillen von Rossmann übereinander trägt. Mir Bettwäsche von ALDI zum Geburtstag schenkt. Ralph Lauren höchstwahrscheinlich für einen Scotch hält. Und dem „Golf“ nur als Meeresbucht bei Nordamerika oder als Kleinwagen bekannt ist.
Ich bin somit keine klassische Perlen-Emily. Und sollte jetzt gehen.

Die bunten Lichter im dunklen Lykia spiegeln sich auf CDU-Bernds leichten Geheimratsecken. Die dümpelnde Musik läuft leise im Hintergrund, so dass ich jeden seiner langweiligen Sätze verstehen kann.
„Hast Du Hunger?“ fragt er.
„Nö“, antworte ich. Während mein Magen die Wahrheit knurrt.
Amerikanische Teenager küssen nicht beim ersten Date. Ich schon, wenn’s passt. Aber essen? Niemals! Spaghettisoße, die wie ein Schnurrbart unter der Nase klebt. Salatkräuter, die festgeklemmt das Gegenüber anlächeln. Nee.
Da es aber definitiv kein zweites Date mit CDU-Bernd geben wird, kann ich ja mal eine Ausnahme machen.
„Ich lade Dich auch ein…“. Ein schmieriges Grinsen umspielt seine Mundwinkel.
Aha.
Klassische Rollenverteilung also. Der Herr zahlt, die Dame lässt zahlen. Na dann.

Die Speisekarte ist dicker als CDU-Bernds Bibel.
Frühstück. Extras zum Frühstück. Rührei oder Omelette. Suppen. Vorspeisen. Salate. Kartoffelgerichte. Für unsere kleinen Gäste. Meinen die damit etwa mich?
Pizza. Nudelgerichte. Aufläufe. Reisgerichte. Vegetarisch. Fleischgerichte vom Schwein. Rumpsteak. Fleischgerichte vom Huhn. Pfannengerichte. Hamburger. Dessert. Kuchen.
Ich entscheide mich nach gefühlt drei Jahrzehnten für Nr. 345: Auberginen „Saloniki“ für 8,40 Euro.
Das sind „Auberginen mit Zucchini, Knoblauch und Champignons gefüllt (mit Senf, Rosmarin und Olivenöl) serviert mit Reis oder Salzkartoffeln und Tsatsiki“.
Vielleicht kann ich Vampir-Bernd ja mit einer doppelten Dosis Knoblauch zurück ins Schwabenländle vertreiben.

Die Bedienung ist jetzt noch niedlicher. Will sie nicht den Platz mit CDU-Bernd tauschen? Ich bestelle die Nr. 345 mit Salzkartoffeln.
Das Essen kommt 20 Minuten später. Auf circa 345 Tellern, Körben und Schüsseln. Statt Salzkartoffeln ein Hügel Reis. Schade. Abzug in der B-Note.
Am Nachbartisch rechts sitzen vier durchschnittliche Angewandteliteraturwissenschaftsstudentinnen und reden über ihre Bachelorarbeit.
CDU-Bernd ist trotz seines Masters immer noch Bachelor. Ich stelle mir das Poco-Domäne-Kinder-Schlafsofa in seiner Wohnung in einem Plattenbau irgendwo hinter dem S-Bahnhof Lichtenberg vor.
Links von uns sitzt ein anderes Date. Gott, dieses Wort! Verabredung. Treffen. Kennenlernen. Beschnupperung. Mäh.

CDU-Bernd redet ununterbrochen. Ich esse ununterbrochen. Sehr rosmarinlastig. Viel Sahne. Der Salat durchschnittlich. Tomate, Gurke, Eisberg. Der Tzaziki. Durchschnittlich. Besser zu Ousies nach Schöneberg gehen… Aber alles in allem: ok.
„Wie hälst Du das eigentlich aus in Neukölln? Zwischen all den Ausländern, Verrückten und Hartz-IV-Empfängern?“
Ein sahneschwangerer Pilz bleibt mir im Hals stecken.
Klischee-Bernd mit Klischee-Weltbild.
Ich sehe mich nach einem Notausgang um. Verdammt, ich wollte heute Abend wenigstens vögeln, wenn’s schon nicht der Mann für’s Leben ist. Aber ich vögel nicht mit Klischee-Bernds!
„Ich muss mal für kleine Schwedinnen…“

Auf der Toilette riecht es nach Seife. In der rechten Kabine ist das Klopapier alle. Zum Handewäschen muss man eine Hand ununterbrochen vor einen Sensor halten. Komisches Prinzip. Aber ich lerne schnell!
Ich sehe in den Spiegel. All der Aufwand. Die Haare. Das Eincremen. Die Unterwäsche. Alles für einen spießigen Halb-Nazi im Hemd. Jetzt hilft nur noch eins: ALKOHOL!
Der CDU-Patriarch zahlt schließlich. Da erlaube ich mir, doch auch mal einem Klischee zu entsprechen und lasse mich als Frau einfach mal aushalten. Immerhin muss ICH die CDU-Hornbrille AUCH aushalten!

Die Auswahl der Cocktails ist endlos. Einen „Swimming Pool“? Nee, zu luxuriös. Ich brauche etwas, das Abhilfe schafft!
Einen „Hurricane“, der diesen miesen Abend aufwirbelt? Das „19th Hole“, in dem ich versinken kann? Ein „Flying Cangaroo“ als Fluchtfahrzeug?
Oder einfach einen anderen Mann bestellen? Einen „White Russian“? Einen „Latin Lover“? Oder gar einen „Watermelon Man“?
Ich überlege, was CDU-Bernd wohl bestellen wird. Einen „Küsschen’s“? Einen „Erotica“? Einen „Affair“? Einen „Touch Down“? Einen „Sex on the Beach“? (Sorry, der musste sein…)
Oder gar einen „Viagra“?

Er bestellt einen „Big Boss“.
Aha.
Ich einen „Alex“. Vielleicht kann der ja mehr als Bernd.
Cocktails dauern. Und sind durchschnittlich gut. Immerhin mit Garnitur.
Ich lutsche möglichst unerotisch an einer Cocktailkirsche und sauge schmatzend am Strohhalm herum. Es hilft alles nichts. Der ungevögelte Bachelor-Bernd hat eh nur Augen für meinen Ausschnitt.
„Du hast so schöne Augen!“
Wow. Wahnsinnskompliment. Never heard before. Tell me more about that!
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. Meine Höflichkeit - und mein angepisstes Ego.

Letztlich siegt letzteres. Bevor Bernd das Brot gleich einen güldenen Ring zückt, um seiner Perlen-Emily einen Antrag zu machen, ergreife ich endlich die Flucht.
„Du, ich muss los. Ich treff mich jetzt gleich noch mit meiner Hardcore-Punkband am Hermannplatz zum Kiffen. Und morgen früh habe ich einen Arzttermin, weil sich mein Nippelpiercing entzündet hat.“
In Gedanken rülpse ich einmal laut wie ein Berggorilla.

Meine Höflichkeit und ich laufen zur S-Bahn. Das Lykia liegt hinter mir. Ein durchschnittlicher Ort für durchschnittliche Dates. Ein Ort für CDU-Bernds aus Schwieberdingen, die auch mal Großstadt spielen wollen.
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Notaufnahme lohnt sich nicht, my Darling!

Ein grauer Freitag im November, 15:33 Uhr. Ich sitze im Büro und verspüre ein leichtes Ziehen im Unterleib. Irgendwas stimmt nicht. Mein weiblicher Instinkt sagt: Eine beschissene Blasenentzündung.
Ich ahne Böses. Ich sehe das Übel kommen.
Eine Arztpraxis aufsuchen an einem späten Freitag? „Vergiss es!“
Meine Kollegin schlägt mir vor, in die Charité zu gehen, quasi bei uns um die Ecke.
„Wirklich?“
„Ja. Ich war da vor ein paar Wochen auch, das ging recht schnell.“

Ich überlege, ob der Aufwand lohnt. Krankenhaus? Hm.
Aber aus dem Ziehen wird allmählich ein leichter Schmerz. Das kann nicht gut enden. Ich überlebe dieses Wochenende auf keinen Fall ohne Antibiotika!

Mit verzogener Miene dackel ich zur Charité. Ambulanz.
Notaufnahme? Hm. Ich bin in Not und die nehmen mich auf. Hier bin ich dann wohl richtig.

16:01 Uhr
Anmeldung. 10 Euro rausrücken.
„Aber es kann etwas länger dauern“, sagt der Zivi, während er meine DAK-Karte in das DAK-Karten-Lesegerätdingens steckt.
Urinprobe. Platz nehmen.
Die Schmerzen werden schlimmer.
Und schlimmer.
Und schlimmer.

Toilette.
Warteraum.
Ich trinke ununterbrochen. Cola aus dem Automat. Fanta aus dem Automat. Fanta leer.
Sprite aus dem Automat. Jetzt nimm die scheiß 10-Cent-Münze an! Ich rubbel das messingfarbene Bildnis des Brandenburger Tors energisch über das Getränkeautomatengehäuse. Auch wenn die bei Gallileo auf Pro7 gesagt haben, dass das überhaupt nichts bringt.
Endlich: Aiman Abdallah kann nach Hause gehen! Der Automat hat die Kröte geschluckt!
Mit einem Zischen drehe ich den blauen Deckel. Und trinke.
Wenn ich nicht bald einen Arzt sehe, bekomme ich noch einen Zuckerschock...

Toilette.
Warteraum.
Unbequeme Sitze. Schmutz.
Der Mann gegenüber liest die BILD. Ich lese auf der Rückseite mit.
Verdammt, er schiebt die Hand über Kylie Minogues Hintern und den kleinen Text dazu. So wird das nichts.

Toilette.
Warteraum.
Ich schaue auf mein Handydisplay. Dieses Wochenende fahren alle irgendwohin. Zu Mutti. Nach Braunschweig. An den Bodensee. Mir fällt niemand ein, der in Berlin sein könnte und JETZT Lust hätte, mit mir gemeinsam hier abzuhängen. Naja, ich bin bestimmt bald dran.

Die große Bahnhofsuhr hängt bedrohlich über mir. 17:51 Uhr.

Toilette.
Warteraum.
Ich male Herzchen auf einen Kassenzettel. Der Kugelschreiber schmiert blau vor sich hin.
Ich könnte auch Bläschen malen… Aber wie sieht so eine Blase überhaupt aus? Ich male krumme Kreise.

Der magere Zivi an der Anmeldung sitzt konzentriert vorm PC. Ob der wohl Papier hat?
 „Haben Sie Papier?“
„Hm?“
„Papier, zum Malen. Ich sitze hier schon über zwei Stunden…“

Ich bekomme dünnes DIN A4 Papier, chlorfrei gebleicht.
Ich male die Bahnhofsuhr ab. 18:26 Uhr. Sie wirft einen langen Schatten.

Toilette.
Warteraum.
Mein Handy blinkt. Akku fast leer. Grummel.

Toilette.
Warteraum.
Ich lese Kassenzettel. Sortiere die Bonbonpapiere aus meiner Handtasche heraus. Entferne abgelaufenen Rabattblödsinn aus meinem Geldbeutel. Sehe mir meinen Führerschein an. Mein Gott, hatte ich komische Haare mit 18…

Toilette.
Warteraum.
Schmerzen. Hunger. Im Automaten nur noch Twix. In meinem Geldbeutel nur noch 80 Cent. Passt.

Geld alle. Immer noch Hunger. Akku leer. 19:00 Uhr.

Zehn Euro bezahlt. Drei Stunden gewartet. Wenn ich JETZT gehe, war alles umsonst. Und dann muss ich morgen früh schon wieder ins Krankenhaus. Oder zu einem Niedergelassenen. Und wieder lange warten.
Und die ganze Nacht lang DIESE Schmerzen? Nein, ich bleibe! Müsste ja jeden Moment dran kommen.

19:43 Uhr.
„Herr Werner, bitte!“
Herr Werner steckt die BILD in seinen Leinenbeutel und humpelt zur Schwester.

Ich starre an die weiße Wand. Ah. Ein grüner Fleck. Spannend.

Toilette.
Warteraum.
Ich frage die dicke Frau neben mir, ob sie Zigaretten hat. Da sie nach Rauch stinkt, sollte sie es jetzt bloß nicht wagen, mich anzulügen.

Ich qualme draußen in die Dunkelheit hinein. Ursula, so heißt die Dicke, erzählt mir von ihrem stark eiternden großen Zeh. Ich muss husten. Ich spitze die Ohren, ob drinnen jemand meinen Namen ruft. Aber drinnen vegetieren nur neun Leidende vor sich hin.
„Wie lange wartest Du schon, Ursula?“ Ich muss an die Meereshexe von „Arielle, die Meerjungfrau“ denken. Eine Mischung aus Brigitte Nielson, Gina-Lisa Lohfink und Reiner Calmund.
„Seit fünf Stunden.“

Toilette.
Warteraum.
Drei junge Männer schieben hastig eine Bahre herein. Der Verletzte trägt ein Basketballtrikot.
Ich kann Blut sehen... Und ich kann doch kein Blut sehen!
Oh je, der Arme. Der hat natürlich Vorrang. Ganz klar.
Wenn ich jemals selbst so einen Unfall haben sollte, möchte ich bestimmt nicht auf eine Tussi mit Blasenentzündung warten müssen…

Hm. Aber 4,5 Stunden Wartezeit?

21:00 Uhr.
„Frau Augustin, bitte!“

Ich schlürfe zum Zivi.
„Haben Sie Aspirin?“
Er spricht mit einem Arzt.  Ich kralle mich am Türrahmen fest.
„Es tut mir leid, aber wir können Dir kein Schmerzmittel geben…“
Aha. Er duzt mich.

„Auch kein Aspirin?“ Das Zeug bekommt man doch an jedem Kaugummiautomaten!
„Mir geht es wirklich schlecht. Bitte!?“
Er schüttelt den Kopf.

21:37 Uhr.
Toilette.
Warteraum.
Ich versuche zu dösen. Der wohlige Klang von Schwester Renates Stimme wird mich schon wecken…
Ich öffne die Augen. Ich muss mindestens 40 Minuten geschlafen haben. Ich schaue auf die Bahnhofsuhr:

21:45 Uhr. Wie kann das sein?

Eine Transvestit betritt die Bühne. Den kenne ich doch! Der rennt doch immer betrunken am Hauptbahnhof rum. Oder die? Wie ist das jetzt politisch und menschlich korrekt? Der, die, das? Wer, wie, was?
Ich rieche Fusel. Und Knoblauch.
Es läuft einfach geradeaus, an der Anmeldung vorbei, um die Ecke zu den Behandlungsräumen. In die verbotene Zone.
Ob sie wohl schon sehr viel getrunken hat? Und ob er wohl auch Schmerzen hat? Oder verwechselt es die Charité mit dem Bahnhof und sucht nach dem Gleis? Sie brabbelt laut irgendwas vor sich hin und kratzt sich an seinem Hintern. Die rote Netzstrumpfhose ist an vielen Stellen aufgerissen.

Toilette.
Warteraum.
Ich sitze. Denke. Verzweifle. Wenn Gott mir jetzt anbieten würde, zu sterben – Gott, ich würde es SOFORT tun.

Die Tür geht auf. Jörn Schlönvoigt humpelt in den Raum. Auch bekannt als Philip Höfer aus GZSZ.
Er arbeitet sich bis zur Anmeldung vor. Der Zivi telefoniert, gibt mit einem Handzeichen zu verstehen, dass Jörn kurz warten soll. Er steht im Türrahmen. Sieht sich um. Sieht mich an. Und lächelt.

Verdammte Axt, ich pisse Blut und ein C-Promi flirtet mit mir!

Jörn wird zu den Ärzten gebracht. Eine halbe Stunde später humpelt er mit Gips wieder zur Tür hinaus.
Meine große Schwester, Chirurgin, wird mir später antworten : „Nein, das war nicht nur der Privatpatientenbonus. Das war der Promibonus.“

Und ich sitze. Und ich denke. Und ich verzweifle.
Ich wühle wie ein Wildschwein in meiner Handtasche herum. Alter, hier muss doch IRGENDWO ein Aspirin sein! Ibuprofen. Paracetamol. Buscopan. Ich hab doch sonst immer jeden Scheiß dabei!
Ich finde einen kleinen Ohrring. Drei Sesamkörner. Ein Pflaster. Ein Pflaster! Wo ist MacGyver, wenn man ihn braucht???

22:17 Uhr
Ich stehe mit Eva aus Steglitz draußen. Sie schenkt mir vier Zigaretten. Dafür muss ich ihr ein Versprechen geben: ihr Freund drinnen darf niemals erfahren, wie lange ich schon warte.
„Sonst packt der das nicht!“

Aber er packt es: Er kommt natürlich vor mir dran.

23:32 Uhr
Ich krieche zu den Behandlungsräumen. Vor mir bäumen sich zwei weiße Flügeltüren auf, wie das schützende Tor zu einer Festung.
Ich schlage mit der Handfläche auf eine Klingel. Eine Frau in weiß steht vor mir. Und nein, sie ist nicht zum Heiraten hier…
„Wann komme ich endlich dran?"
"Wer sind Sie?"
„Wintergrün. Blasenentzündung. Ich brauche einfach NUR Antibiotika, ein Rezept, sonst nichts. Dann sind Sie mich sofort wieder los…“
Sie liest in einer Akte.
"Der Arzt hat noch einen Patienten bei sich. Dann sind Sie dran."

01:30 Uhr
Ich sitze auf dem Boden.
Ich wäre gerne tod.
Tot, meine ich.
Eine Träne läuft an meinem Nasenrücken vorbei.
Ich habe aufgegeben, die Flecken an der Decke zu zählen.
Ich summe leise:
“You could wait for a lifetime
To spend your days in the sunshine…
It's a crazy situation
But all I need are cigarettes and alcohol...”

Ich krieche wieder zur Klingel.
Die Schwester sieht mich mitleidig und gestresst an.
Dann wirft sie wieder einen Blick in eine Akte.
„Hat Sie denn schon einer unserer Ärzte gesehen?“
„Nein.“
„Oh, das ist schade…“
Das schlechte Gewissen ist ihr anzusehen.

01:35 Uhr
In der verbotenen Zone. Ein junger Arzt steht neben mir. Alle um ihn herum laufen hektisch hin und her. Ihre Augen sind glasig, blaue Schatten darunter.

"Sie haben Blasenentzündung?"
„Ja.“
 JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA!!!

„Sie haben Recht. In Ihrem Urin waren unfassbar viele weiße und rote Blutkörperchen.“
 Aha.
 Er drückt mir ein Rezept in die Hand. Kein weiteres Gespräch, keine Untersuchung.

Warteraum.
Toilette.
Warteraum.
Ausgang.
Gekrümmt schleiche ich aus der Ambulanz. Draußen hält ein Wagen. Das blaue Licht blinkt nervös. Blut, schon wieder Blut.

Die Nacht ist kalt, sternenklar. Richtung Hauptbahnhof. Richtung 24-Stunden-Apotheke. Richtung Antibiotika. Richtung Erlösung.

Es ist 2:07 Uhr.