Feierabend. Endlich. Den ganzen Tag bin ich fröhlich wie ängstlich hin
und her getänzelt. Immer im Kreis, rechts, links, vorwärts, rückwärts.
Es
ist 20:07 Uhr. Der erste Abendnebel in diesem Jahr. Ich beschließe
heute wieder zu Fuß zu gehen. Seit Ende September ist die Rathausbrücke
wieder geöffnet.
Die Straßen hier in Mitte, mit den teuersten und
langweiligsten Büroräumen der Stadt, sind leer, kalt, sauber und in
trübe Feuchtigkeit gehüllt. Keine Touristen mehr - die Gegend wirkt um
diese Uhrzeit wie die graue Kulisse von „The third man“ aus dem Jahr
1949.
Schon von weitem strahlen die vier leuchtenden Pylonen der
Rathausbrücke durch den Nebel. Links versinkt die unbebaute
Schlossplatzwiese in der Dunkelheit. Rechts weist ein Baugitter darauf
hin, dass hier vor Kurzem noch gearbeitet wurde. Ich laufe mitten auf
der Straße, Autos dürfen hier eh nicht fahren. Kein Müll, kein Dreck,
keine Risse im Teer.
Gerade will ich die neue
Stahlverbundträgerrostkonstruktion betreten, da sehe ich etwas Winziges
an der Balustrade vorbeihuschen. Ich trete vorsichtig näher. Im
vernebelten Schein der Pylonen erkenne ich sie wage. Eine Maus. Sie ist
flink und wuselig, aber sie flüchtet nicht, sie versteckt sich nicht.
Sie wirkt eher, als würde sie tanzen. Ob ihr kleines Mäusehirn wohl
gerade Soul und Funk abspielt? Oder gar Minimal? Oder doch eine
ungarische Volksmelodie?
Sie tänzelt jedenfalls fröhlich wie
ängstlich hin und her. Immer im Kreis, rechts, links, vorwärts,
rückwärts. Dabei kommt sie letztlich immer näher auf mich zu. Ich
bemerke unmittelbar vor meinen Schuhen, kaum sichtbar, einen großen
Schwall Kotze. Hier, mitten in der Sauberkeit von Mitte-Mitte.
Nein,
kleine Olga, komm mir nicht zu nah! Du rennst sonst mitten ins
Erbrochene, das der besoffene Karl-Heinz aus Donauwörth letzte Nacht
hier ausgekübelt hat!
Doch Olga hat offensichtlich bessere Augen
als ich und macht einen – für ihre Dimensionen – großen Bogen um die
säuerliche Pfütze. Nun ist sie mir so nahe, dass sie mir fast auf die
Hand springen könnte. Sie hat Hinterbeine wie ein Känguru, ihre
schwarzen Knopfaugen blicken mir neugierig und treu entgegen. Was macht
so ein ungewöhnliches Tier abends alleine auf einer Brücke am Spreeufer?
Sightseeing? Wohl kaum.
"Wo sind denn Deine Homies?" Ich höre
mich mit Olga sprechen. Unten stehen fünf Angler am Ufer und schauen
vorwurfsvoll zu mir hinauf. Ja, ja, ich verzieh' mich ja gleich. Wenigstens konnten sie mich mit ihren stummen Blicken nicht duzen...
Ich
blicke auf die Brücke. Die Pylonen strahlen nicht nur kühles Licht,
sondern auch etwas Beängstigendes aus. Sie erinnern mich irgendwie an
den Glaskasten aus dem Film „The Cell“, in dem der psychopathische
Serienkiller Carl seine weiblichen Opfer gefangen hält, bis er den
Kasten nach und nach mit Wasser fluten lässt.
Der Berliner Dom
ist kaum zu erkennen, obwohl nur einen Katzensprung entfernt. Ich lehne
mich ans Geländer, in der Hoffnung, dass den elenden Kreuzspinnen heute
Abend zu kalt ist, um hier draußen abzuhängen. Die Pfeiler sollen wohl
Äste nachahmen. Der Handlauf wurde aus afrikanischem, goldbraunem
Iroko-Holz gefertigt.
Ich streiche über die Oberfläche. Aha! Das ist
also zweihäusig getrenntgeschlechtiges Maulbeergewächs. Diözisch,
natürlich. Ist ja klar.
Die Angler unter mir hoffen immer noch
auf einen guten Fang. Ich habe das noch nie verstanden. Rumstehen und
warten... Sollen die doch einfach S-Bahn fahren! Dafür braucht man nicht
mal eine Angel.
Auf dem schwarzen Wasser liegt ein Frachter voller Bauschutt. Rostig und alt. Ein Kran steht schwer und still daneben.
Wie
aus dem Nichts gleitet ein Schiff unter der Brücke hervor. "Belvedere"
steht auf dem Bug. Sie ist schneeweiß und leuchtet wie ein
Weihnachtsbaum. Ich sehe Menschen, sie tanzen, sie trinken. Sie zahlen
ein Vermögen, um einmal Klischee-Tourist auf der Spree spielen zu
dürfen.
Ach Berlin. Du übermächtiges Chamäleon. Du hässlich-schönste aller Städte.
Ach ich, Du übermüdete Maus.
Ich blicke zu Boden.
Olga
hat sich wohl dagegen entschlossen, mein neues Haustier zu werden, und
ist Richtung Hochschule für Musik weitergezogen. Wahrscheinlich ist sie
dort eh besser aufgehoben als bei mir.
Gut getroffen und schön beschriebenes Stillleben. Vor allen der Angel / S-Bahn vergleich :-)
AntwortenLöschenGüsse Henry Dobermann
Highlight. Ich mag den nachdenklichen Unterton, den Wortwitz, die Assoziationen.
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