Dienstag, 20. November 2012

Olga und die Kotze von Mitte-Mitte

Feierabend. Endlich. Den ganzen Tag bin ich fröhlich wie ängstlich hin und her getänzelt. Immer im Kreis, rechts, links, vorwärts, rückwärts.
Es ist 20:07 Uhr. Der erste Abendnebel in diesem Jahr. Ich beschließe heute wieder zu Fuß zu gehen. Seit Ende September ist die Rathausbrücke wieder geöffnet.
Die Straßen hier in Mitte, mit den teuersten und langweiligsten Büroräumen der Stadt, sind leer, kalt, sauber und in trübe Feuchtigkeit gehüllt. Keine Touristen mehr - die Gegend wirkt um diese Uhrzeit wie die graue Kulisse von „The third man“ aus dem Jahr 1949.

Schon von weitem strahlen die vier leuchtenden Pylonen der Rathausbrücke durch den Nebel. Links versinkt die unbebaute Schlossplatzwiese in der Dunkelheit. Rechts weist ein Baugitter darauf hin, dass hier vor Kurzem noch gearbeitet wurde. Ich laufe mitten auf der Straße, Autos dürfen hier eh nicht fahren. Kein Müll, kein Dreck, keine Risse im Teer.

Gerade will ich die neue Stahlverbundträgerrostkonstruktion betreten, da sehe ich etwas Winziges an der Balustrade vorbeihuschen. Ich trete vorsichtig näher. Im vernebelten Schein der Pylonen erkenne ich sie wage. Eine Maus. Sie ist flink und wuselig, aber sie flüchtet nicht, sie versteckt sich nicht. Sie wirkt eher, als würde sie tanzen. Ob ihr kleines Mäusehirn wohl gerade Soul und Funk abspielt? Oder gar Minimal? Oder doch eine ungarische Volksmelodie?

Sie tänzelt jedenfalls fröhlich wie ängstlich hin und her. Immer im Kreis, rechts, links, vorwärts, rückwärts. Dabei kommt sie letztlich immer näher auf mich zu. Ich bemerke unmittelbar vor meinen Schuhen, kaum sichtbar, einen großen Schwall Kotze. Hier, mitten in der Sauberkeit von Mitte-Mitte.

Nein, kleine Olga, komm mir nicht zu nah! Du rennst sonst mitten ins Erbrochene, das der besoffene Karl-Heinz aus Donauwörth letzte Nacht hier ausgekübelt hat!

Doch Olga hat offensichtlich bessere Augen als ich und macht einen – für ihre Dimensionen – großen Bogen um die säuerliche Pfütze. Nun ist sie mir so nahe, dass sie mir fast auf die Hand springen könnte. Sie hat Hinterbeine wie ein Känguru, ihre schwarzen Knopfaugen blicken mir neugierig und treu entgegen. Was macht so ein ungewöhnliches Tier abends alleine auf einer Brücke am Spreeufer? Sightseeing? Wohl kaum.

"Wo sind denn Deine Homies?" Ich höre mich mit Olga sprechen. Unten stehen fünf Angler am Ufer und schauen vorwurfsvoll zu mir hinauf. Ja, ja, ich verzieh' mich ja gleich. Wenigstens konnten sie mich mit ihren stummen Blicken nicht duzen...

Ich blicke auf die Brücke. Die Pylonen strahlen nicht nur kühles Licht, sondern auch etwas Beängstigendes aus. Sie erinnern mich irgendwie an den Glaskasten aus dem Film „The Cell“, in dem der psychopathische Serienkiller Carl seine weiblichen Opfer gefangen hält, bis er den Kasten nach und nach mit Wasser fluten lässt.

Der Berliner Dom ist kaum zu erkennen, obwohl nur einen Katzensprung entfernt. Ich lehne mich ans Geländer, in der Hoffnung, dass den elenden Kreuzspinnen heute Abend zu kalt ist, um hier draußen abzuhängen. Die Pfeiler sollen wohl Äste nachahmen. Der Handlauf wurde aus afrikanischem, goldbraunem Iroko-Holz gefertigt.
Ich streiche über die Oberfläche. Aha! Das ist also zweihäusig getrenntgeschlechtiges Maulbeergewächs. Diözisch, natürlich. Ist ja klar.

Die Angler unter mir hoffen immer noch auf einen guten Fang. Ich habe das noch nie verstanden. Rumstehen und warten... Sollen die doch einfach S-Bahn fahren! Dafür braucht man nicht mal eine Angel.

Auf dem schwarzen Wasser liegt ein Frachter voller Bauschutt. Rostig und alt. Ein Kran steht schwer und still daneben.
Wie aus dem Nichts gleitet ein Schiff unter der Brücke hervor. "Belvedere" steht auf dem Bug. Sie ist schneeweiß und leuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Ich sehe Menschen, sie tanzen, sie trinken. Sie zahlen ein Vermögen, um einmal Klischee-Tourist auf der Spree spielen zu dürfen.

Ach Berlin. Du übermächtiges Chamäleon. Du hässlich-schönste aller Städte.
Ach ich, Du übermüdete Maus.
Ich blicke zu Boden.
Olga hat sich wohl dagegen entschlossen, mein neues Haustier zu werden, und ist Richtung Hochschule für Musik weitergezogen. Wahrscheinlich ist sie dort eh besser aufgehoben als bei mir.

2 Kommentare:

  1. Gut getroffen und schön beschriebenes Stillleben. Vor allen der Angel / S-Bahn vergleich :-)
    Güsse Henry Dobermann

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  2. Highlight. Ich mag den nachdenklichen Unterton, den Wortwitz, die Assoziationen.

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